Ulrike Ludwig

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Raumbuch

If something is meaningful, maybe it's more meaningful said ten times.

Eva Hesse im Gespräch mit Cindy Nemser, 1970

Für die Beschreibung eines Gebäudes kennen Architekten im Wesentlichen zwei Darstellungsmodi: den Grundriss und das Raumbuch. Der Grundriss bietet eine maßstabs­gerechte Übersicht. Als Horizontalschnitt veranschaulicht er die Gesamtanlage eines Baus und die Abfolge der Räume. Das Raumbuch ergänzt die visuelle Vorstellung  durch eine Vielzahl von Informationen zu Rauminhalten, Wandbekleidungen, Bodenbelägen, Ver­sorgungstechnik u.v.m.

Die Berliner Künstlerin Ulrike Ludwig verbindet die beiden in der Architektur geläufigen Darstellungsformen zu einer skulptural-installativen Arbeit. „Raumbuch“, so der Titel ihrer jüngsten Arbeit, umfasst zehn Bände mit maßstabsgerechten Zeichnungen in DinA4-Format, die jeweils einem Gebäude gewidmet sind. Bei den abgebildeten Gebäuden handelt es sich zumeist um Bauten, die in den vergangenen Jahren öffentlich diskutiert wurden. Ludwig geht jeweils von den Grundrissen aus, reduziert und fragmentiert diese allerdings so stark, dass die Spezifik und Funktionalität des jeweiligen Gebäudes in den Hintergrund treten.

Mittels eines speziellen Zeichenprogramms für Architekten stellt sie je Blatt einen Raum dar und positioniert die Zeichnung auf jedem Blatt mit gleichem Abstand zum rechten und oberen Rand. Die Räume werden so aus dem Zusammenhang des Grundrisses gelöst; an die Stelle des Überblicks tritt ein sukzessives Nacheinander in strenger Ordnung. Dies ist im Hinblick auf das jeweils spezifische Gebäude absurd, denn gezeigt werden stets ähnliche Einheiten, die sich zwar in der Dimensionierung oder in der Position von Fenstern oder Türen unter­scheiden, prinzipiell allerdings lediglich sinnentleerte Rechtecke präsentieren. Kaum jemand wird eines der Bücher Seite für Seite lesen, denn die visuelle Erkenntnis lässt keine Rückschlüsse auf die Besonderheiten, die funktionalen Zusammenhänge eines Baus zu. In der Repetition wird allerdings deutlich: Es geht hier um das Prototypische von Architektur: Alle Architektur basiert auf dem Prinzip des Orthogonalen.

Diesem Prinzip folgt auch das Buch selbst, das als standardisiertes Format von jeweils erheblichem Umfang - eben weil es seiner Funktionalität als Informationsquelle in der Suk­zession des Lesens enthoben ist - auch als Objekt lesbar wird. Zugleich löst die Künstlerin den Objektcharakter des Buches aber wieder auf: Sie präsentiert die Blätter auch als installative Wandarbeit. Auf diese Weise entstehen große Tableaus von über-, neben- und untereinander gereihten Blättern. Die jeweils bündig zur rechten oberen Ecke eines jeden Blattes positionierten Raumdaten treten hier in eine neue Beziehung zueinander. Es entsteht ein System aus Wiederholungen und rhythmischen Bezügen, das an Schaltpläne oder Partituren erinnert. Die aus dem ursprünglichen Kontext gerissenen Räume treten auf diese Weise neu zueinander in Beziehung, in eine Beziehung allerdings, die nicht mehr dem Grundriss, sondern einer durch die Künstlerin vorgenommenen Reihung folgt.

Ulrike Ludwig fragmentiert das Ausgangsmaterial, bündelt es im Medium Buch neu, übersetzt den Grundriss insofern vom Simultanen in die Sukzession. In einem zweiten Schritt  überführt sie das nacheinander Geordnete wieder in die Gesamtschau. Reduktion, Repe­tition und Systematik münden in eine neue Komplexität, womit Ulrike Ludwigs Arbeit in der Tradition der Minimal Art steht. Die aus zugrunde gelegten Modulen geschaffene Komplexität birgt in ihrer Systematik überdies aber auch Aspekte von Analyse und Vision. Denn die Repetition ist weit mehr als eine Vergewisserung der Orthogonalen als Grundmodul, das durch Neukombination Komplexität gewinnt. Mit der Zahl 10 sind im Kontext der Architektur­theorie die Namen Vitruv und Alberti verbunden, Namen, die für Beschreibung wie Analyse stehen und, im Falle Albertis, weit über pragmatische Fragen des Bauens hinausreichen. Der gesellschaftliche und visionäre Aspekt von Architektur kommt in Ludwigs Arbeit „Raumbuch“ deutlich zum Ausdruck, wenn sie das erste ihrer 10 Bücher dem  Berliner Stadtschloss, d.h. dem Wettbewerbsentwurf von Franco Stella widmet. Ludwigs Position zum vieldiskutierten Schlossprojekt bleibt offen, klar hingegen wird, dass Konzeptionen von Architektur, so sehr sie auch auf Realisierung zielen mögen, zunächst Ideen sind.

Claudia Beelitz, 30. April 2012

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